«…und das ist die erste Entscheidung, wo ich mir zu mehr als 100% sicher bin, dass es die richtige war.»

Auftritt: Jessica Bosshard

Interview mit Jessica Bosshard und Klaus Nürnberg

Von Andreas Villiger


Es braucht Mut, mit Mitte zwanzig nochmals die Schulbank zu drücken. Da steht man voll im Berufsleben, hat sich einen Namen gemacht und an einen bestimmten Lebensstandard gewöhnt, und plötzlich wechselt man freiwillig die Rolle. Genauso ging es Jessica Bosshard, als sie vor bald zwei Jahren in die KME eintrat. Seither verbringt sie sechs Tage die Woche im Seefeld, büffelt für die Schule, jobbt fürs Überleben und nimmt für die Erfüllung ihres Studientraums beträchtliche Einkommenseinbussen in Kauf.

Keine leichte Rolle – aber Jessica Bosshard hat sich daran gewöhnt. Und weil ihr diese nicht reicht und sie gerne neue Rollen ausprobiert, gehört sie auch zum Ensemble von Klaus Nürnberg, der die KME-Theatergruppe leitet.

Welche Brücken gibt es zwischen dem Theater und der eigenen Lebensrolle? Andreas Villiger hat die beiden am 21.01.2019 zu einem Interview getroffen. Vorhang auf!

«Dazu entschieden habe ich mich, weil ich mich, schon seit ich ein kleines Kind bin, sehr für das Theater interessiere.»

Frau Bosshard, Sie sind im August 2017 ins 1. Semester der Ganztagesschule der KME eingetreten und mussten nach einigen Jahren im Berufsleben wieder in die Rolle der Schülerin schlüpfen. Nun haben Sie schon drei Semester hinter sich. Halbzeit. Wie geht es Ihnen?

BOSSHARD: Mir geht’s soweit eigentlich ganz gut. Manchmal ist es ein bisschen schwierig, alles unter einen Hut zu bringen, aber ich denke, ich habe mich gut eingelebt.

Sie haben sich vor mehr als zwei Jahren für eine dreijährige Ausbildung entschieden, um auf dem zweiten Bildungsweg die Matur zu erlangen. Bereuen Sie Ihren Entscheid?

BOSSHARD: Nein, überhaupt nicht. Ich habe in meinem Leben schon manche Entscheidung treffen müssen, und das ist die erste Entscheidung, wo ich mir zu mehr als 100% sicher bin, dass es die richtige war.

Wie erleben Sie das Studentenleben im Unterschied zu Ihrem früheren Berufsalltag?

BOSSHARD: Ich erlebe vor allem die Abende ganz anders. Wenn man nach Hause kommt, ist man megaerschöpft, aber es ist eine ganz andere Erschöpfung, als ich sie vom Arbeiten kenne. Ich habe vorher immer in körperlich anstrengenden Berufen gearbeitet. Komme ich heute müde von der Schule, beschleicht mich manchmal das Gefühl, ich hätte doch noch gar nichts gemacht, mich noch nicht bewegt. Dann frage ich mich: «Warum bin ich so müde?» Damit kann ich nicht so gut umgehen.

Was haben Sie früher gearbeitet?

BOSSHARD: Ich habe schon ziemlich vieles gemacht. Ich habe auf einem Pferdehof als Praktikantin gearbeitet. Ich habe eine Lehre als Coiffeuse absolviert. Ich habe als Barista über längere Zeit gearbeitet. Kurz: Ich habe schon in einige Berufszweige hineingesehen.

Was fällt Ihnen in Ihrer neuen Rolle als Studentin am schwersten?

BOSSHARD: Alles unter einen Hut zu bringen. Das ist wirklich etwas, das ziemlich schwierig ist. Neben der Arbeit habe ich noch Hobbies, z.B. bin ich in einem Turnverein, und manchmal ist es schwierig, die Zeit so einzuteilen, dass genügend Zeit zum Lernen einkalkuliert wird und trotzdem noch Zeit für sein Privatleben hat.

Gibt es Dinge, die Ihnen fehlen?

BOSSHARD: Das Reisen fehlt mir sehr. Seit ich mit der Schule begonnen habe, musste ich meine Bedürfnisse ziemlich zurückstecken. Das wusste ich auch, als ich mich auf die KME eingelassen habe. Und dann fehlt mir die Freiheit, einfach Dinge zu tun, was dann meistens mit finanziellen Aspekten zu tun.

Seit Ihrem Eintritt in die KME wirken Sie auch in der von Klaus Nürnberg geleiteten Theatergruppe unserer Schule mit. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Freifach zu wählen?

BOSSHARD: Es stimmt so nicht ganz. Ich bin erst im zweiten Semester dazugestossen, und zwar habe ich mich im ersten Semester nicht angemeldet, weil ich zuerst schauen wollte, wie ich mit der Schule klarkomme. Ich hab’ mich dann entschieden, das Theater doch noch zu wählen, und war dann eigentlich froh, dass Klaus noch Leute brauchte. Somit habe ich die letzte Rolle, die noch zu besetzen war, ergattert. Dazu entschieden habe ich mich, weil ich mich, schon seit ich ein kleines Kind bin, sehr für das Theater interessiere. Ich hatte schon in der Schule die eine oder andere Hauptrolle, weil mir das einfach Spass macht.

Wie oft proben Sie?

BOSSHARD: Normalerweise einmal pro Woche. Zurzeit habe ich jedoch eine kleine Pause, weil wir gerade Szenen proben, in denen ich nicht vorkomme.

An welchem Stück arbeiten Sie?

BOSSHARD: Wir arbeiten am Stück «Lieblingsmenschen» von Laura de Weck. Man kann sich allerdings auf ein paar kleine Überraschungen gefasst machen.

«Je nach Körperhaltung, nach Situation, nach Intonation kann ein und derselbe Satz dann A oder B heissen. Das heisst, man sieht, dass es nicht auf den Satz ankommt, sondern auf die Atmosphäre, wie man einen Satz formuliert und in welcher Situation man ihn gestaltet.»

Herr Nürnberg, Sie leiten die Theatergruppe der KME. Wie viele Stücke haben Sie inzwischen an der KME inszeniert?

NÜRNBERG: Ich habe bereits 20 Stücke an der KME inszeniert, und das ist jetzt mein 21. Stück.

Was fasziniert Sie am Theater?

NÜRNBERG: Wie Lessing so schön sagt, Mitleid und Furcht. Ich finde es faszinierend, wie man durch ein Theaterstück Mitleid und Furcht erregen kann. Diese beiden Gefühle erlauben den Darstellerinnen und Darstellern auch, sich selbst besser kennen zu lernen. Sie stellen sich beim Spielen die Frage: «Wovor hat meine Figur Angst? Wo fühlt sie mit?» Die Art und Weise, wie wir auf diese Fragen reagieren, macht einen wesentlichen Teil unserer Identität aus. Nun können die Studierenden in neue Identitäten schlüpfen, sie können sich selbst ausprobieren.

Warum ist das Theaterspielen für junge Menschen so wichtig?

NÜRNBERG: Ich denke vor allem an die Sozialkompetenz, an die Auftrittskompetenz. Beim Spielen bekommt man immer eine direkte Rückmeldung. Am wichtigsten finde ich jedoch, dass man hautnah erlebt, wie vollkommen verschieden ein Satz wirken kann. Je nach Körperhaltung, nach Situation, nach Intonation kann ein und derselbe Satz dann A oder B heissen. Das heisst, man sieht, dass es nicht auf den Satz ankommt, sondern auf die Atmosphäre, wie man einen Satz formuliert und in welcher Situation man ihn gestaltet. Inszenieren heisst ja, in Szene setzen, in eine Situation setzen.

Sie haben auch mit professionellen Schauspielerinnen gearbeitet. Was ist anders, wenn man mit Laiendarstellern arbeitet?

NÜRNBERG: Professionelle Schauspieler probieren das, was sie spielen, immer unter dem Aspekt der Wiederholbarkeit. Sie müssen jeden Abend dasselbe spielen. Das funktioniert aufgrund der fehlenden Technik bei Laien nicht. Das heisst, ich muss bei meiner Arbeit mit Laien daran arbeiten, dass sie eine Stimmung, ein Gefühl möglichst jeden Abend wieder erleben können, damit sich ihre Figur nicht verändert.

Haben sich die Studierenden in den letzten 20 Jahren verändert?

NÜRNBERG: Ich glaube schon. Einerseits haben die früheren Studentinnen und Studenten eine grössere berufliche Erfahrung gehabt. Die jetzigen Studierenden haben in der Regel nicht eine so breite berufliche Erfahrung. Jessica Bosshard ist da schon eine Ausnahme. Andererseits hatten die Studenten früher nicht so konkrete Vorstellungen, was sie mit der Matur anfangen wollten. Die jetzigen Studierenden haben oft ein klar umrissenes Ziel, sie wissen, warum sie hier sind. Sie sind viel pragmatischer als die Studierenden vor 20 Jahren.

Frau Bosshard, beschreiben Sie uns die Rolle, die Sie in der neuen Inszenierung von Klaus Nürnberg spielen.

BOSSHARD: Ich werde die Anna spielen. Das ist eine junge Philosophiestudentin, die eher etwas schüchtern und zurückhaltend ist. Sie lebt seit langer Zeit in einer festen Beziehung. Eines Tags begegnet sie wieder alten Schulfreunden und beginnt einen neuen Lebensstil zu entdecken, den sie so nicht kannte. Das weckt in ihr die Frage, ob sie mit ihrem Leben und dem Lebensstil, den sie lebt, auch zufrieden ist. Ich habe das Gefühl, dass sie anfängt, an sich selbst zu zweifeln.

Was denken Sie von der Figur, die Sie verkörpern?

BOSSHARD: Anfangs tat ich mich ehrlich gesagt ein bisschen schwer mit Anna. Mittlerweile finde ich sie jedoch ziemlich interessant, weil sich viele Leute auch von mir ein ganz ähnliches Bild machen, – jedenfalls wenn sie mich nicht gut kennen. Sie denken aufgrund von Äusserlichkeiten, dass auch ich schüchtern und zurückhaltend bin und ein strukturiertes Leben führe. In Wahrheit bin ich aber überhaupt nicht so.

«Die jetzigen Studierenden haben in der Regel nicht eine so breite berufliche Erfahrung. Jessica Bosshard ist da schon eine Ausnahme.»

Sehen Sie die Figur Anna gleich, Herr Nürnberg?

NÜRNBERG: Ich sehe sie ähnlich. Interessant fand ich vor allen Dingen, dass der Massstab, den man hat, auch von unserer Umgebung geprägt wird. Wenn alle Menschen im eigenen Umfeld einen anderen Lebensstil haben, häufiger den Partner wechseln, anders leben, dann bekommt man Selbstzweifel, wenn man anders ist. Das Schwierige besteht darin, seine Individualität zu bewahren, eine gefestigte Identität zu erlangen und zu erkennen, dass man nicht so sein muss, wie alle andern. Anna stellt sich ganz viele Fragen, und ich finde es gut, dass sie durch das Fegefeuer des Gleichseinwollens, des Gruppendrucks gehen und für sich selbst herausfinden muss: «Ist es so richtig? Ist es verkehrt?» Wir sehen bei Anna sehr schön, dass sie sehr irritiert ist. Sie macht dann einmal einen in kleinen Schritt in die verkehrte Richtung und bekommt die brutale Konsequenz ihres Handelns zu spüren.

Verraten Sie uns nicht zu viel. Premiere ist am Donnerstag, 09. Mai 2019, in der Aula der KME. – Frau Bosshard, Ihr Auftritt an der KME geht in gut einem Jahr mit den Maturitätsprüfungen zu Ende. Welche Rolle spielen Sie in 10 Jahren?

BOSSHARD: Ich hoffe, dass ich in 10 Jahren mein Studium abgeschlossen und eine Stelle als Tierärztin gefunden habe. Ich hoffe, dass ich wieder Zeit finde, um reisen zu können, und natürlich hoffe ich, dass das Theater weiterhin einen Platz in meinem Leben hat. Ansonsten habe ich keine konkrete Vorstellung, wie meine Zukunft aussehen soll. Ich bin ein Mensch, der eigentlich nicht viel plant, sondern die Dinge lieber auf sich zukommen lässt.

Und Sie Herr Nürnberg?

NÜRNBERG: In 10 Jahren werde ich in Altersheimen Märchen inszenieren oder in Kindergärten Horrorfilme nachstellen.

 

Frau Bosshard, Herr Nürnberg, vielen Dank für das Gespräch.

Text: Andreas Villiger
Bilder: Roberto Huber