«Aller guten Dinge sind drei! Entdecken Sie drei Bücher aus unserer Mediothek, die sich von anderen abheben.»

Mediothek

Drei aussergewöhnliche Bücher aus unserer Mediothek

Von Thomas Fähndrich

Öffnet man einen der acht Folianten des «Sprachatlas der deutschen Schweiz», braucht man einen freien Tisch, der mindestens einen Meter breit ist. Unwillkürlich tritt man einen Schritt zurück, damit man die beiden aufgeschlagenen Seiten überblicken kann. Der Buchdeckel ist braun, unscheinbar. Der Inhalt ist wichtig, nicht die Verpackung. Das Werk enthält hunderte von Karten mit akribischen Legenden. Jede Karte zeigt die Deutschschweiz. Auf den Karten findet man Kreise, Dreiecke, Quadrate, senkrechte Striche, die mal fett, mal normal, mal mager gedruckt sind.

In den Legenden ist jedes Zeichen fein säuberlich erklärt. Die Leserschaft kann erschliessen, welches Wort an welchem Ort gebräuchlich war und wie es ausgesprochen wurde. Man kann auch die grammatischen Formen erschliessen. Man entdeckt markante Grenzen, sogenannte Isoglossen. Man staunt, dass viele Isoglossen nicht entlang der Kantonsgrenzen verlaufen. Man entdeckt Wörter für Gegenstände, die man heute nicht mehr kennt, und es wird einem schnell klar, dass in diesen Büchern unter anderem auch der Wortschatz der bäuerlich geprägten Schweiz konserviert ist.

«Betrachtet man die Karten, könnte man manchmal denken, es handle sich um Kunst, um Bilder, die bewusst machen wollen, wie vielfältig, wie heterogen die Schweiz ist.»

Am 1. August 1939 begannen die Befragungen, sie dauerten 19 Jahre. Gewährspersonen aus fast 600 Gemeinden beantworteten die 2’500 Fragen der Exploratoren. Das entspricht etwa einem Drittel der damaligen deutschsprachigen Gemeinden der Schweiz. Alle Antworten wurden fein säuberlich von Hand transkribiert. Wichtig war, die Aussprache der Gewährspersonen präzise zu erfassen. Dazu wurde eine bestehende Lautschrift den spezifischen Merkmalen der Dialekte der Deutschschweiz angepasst. Danach begann die anspruchsvolle Phase der Auswertung und Publikation. Sie dauerte bis 1997.

Das Werk wurde vor dem Computerzeitalter geplant und erstellt. Das macht den Sprachatlas noch beeindruckender. Betrachtet man die Karten, könnte man manchmal denken, es handle sich um Kunst, um Bilder, die bewusst machen wollen, wie vielfältig, wie heterogen die Schweiz ist. Wir erkennen, wie unterschiedlich wir eigentlich sprechen, und wissen, dass wir uns trotzdem verstehen. Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe. Die Karte «nach der Arbeit ausruhen» zeigt, dass dies wohl schon früher so war. Es ist beeindruckend, wie unterschiedlich die Worte sind, mit denen die Menschen diese Zeit beschreiben.

Literaturangabe:
Rudolf Hotzenköcherle (Hrsg.), Sprachatlas der deutschen Schweiz. Einführungsband, Bände I–VIII, Abschlussband. Bern und Basel 1962ff:Francke Verlag.

Hier ist noch alles möglich

Gianna Molinaris Buch «Hier ist noch alles möglich» ist im Sommer 2018 erschienen. Die Autorin hat einen Erstling geschrieben, der grosse Resonanz fand. Protagonistin des Romans ist eine namenlose Nachtwächterin, die das Gelände einer von der Schliessung bedrohten Fabrik für Kartonverpackungen bewachen muss. Das Gelände ist zwar durch einen Drahtzaun geschützt, dieser ist aber löcherig, und deshalb soll ein Wolf ins Gelände eingedrungen sein. Der Koch hat von einer Wolfssichtung berichtet. Dieser ungebetene Gast löst Unruhe und Angst aus. Die Nachtwächterin hat die Aufgabe diesen Wolf aufzuspüren und dingfest zu machen. Schnell wird klar, dass die Fabrik mit dem löcherigen Grenzzaun als Bild zu verstehen ist. Der Umschlag des Buches und die ersten und letzten Seiten nach bzw. vor den Buchdeckeln sind gelb.

Dieses Gelb wirkt wie eine Signalfarbe. Eine Signalfarbe mahnt zu besonderer Vorsicht, warnt vor einer Gefahr. Diese Gefahr geht vom Wolf aus, nicht etwa von der bevorstehenden Schliessung der Fabrik. Die Nachwächterin ist vom Unbekannten fasziniert wie alle Menschen. Sie beschäftigt sich mit den Skiapoden, den Schattenfüsslern, diesen Fabelwesen von menschlicher Gestalt, aber mit nur einem Bein. Mit diesem sollen sie blitzschnell laufen können. Ihren riesigen Fuss halten sie beim Liegen als Sonnenschutz über sich. Die Nachtwächterin verfolgt die startenden Flugzeuge des nahen Flughafens und begibt sich in Gedanken auf grosse Reisen. Sie liest im Universal-General-Lexikon und erschliesst sich so die Welt.

Wenn man das Buch während des Lesens in der Hand hält, merkt man, dass der Umschlag eine Prägung, eine Struktur hat. Er ist nicht einfach glatt. Man ertappt sich vielleicht dabei, wie man mit den Fingern sanft über den Umschlag streicht. Schaut man dann den Umschlag genauer an, wird alles klar. Die feinen schwarzen, erhabenen Linien verkörpern das Fell des Wolfes. Man hat also im sicheren Zimmer sinnbildlich das getan, was man in Wirklichkeit nie wagen würde, nämlich den Wolf zu streicheln.

«Wenn man das Buch während des Lesens in der Hand hält, merkt man, dass der Umschlag eine Prägung, eine Struktur hat.»

Literaturangabe:
Sei Shonagon, Das Kopfkissenbuch, München 2015:Manesse.

Das Kopfkissenbuch

Sei Shōnagon lebte um das Jahr 1’000. Sie war Hofdame der japanischen Kaiserin, sie liebte die Sprache und alles Schöne. Die scharfsinnige Beobachterin hielt ihre Gedanken und Überlegungen auf einzelnen Blättern aus edelstem Papier fest. Diese Blätter bewahrte sie in einem hohlen Kopfkissen aus Porzellan auf. Deshalb erhielt das Werk den Namen «Das Kopfkissenbuch».

Sei Shōnagons Aufzeichnungen stammen aus einer fernen Zeit und aus einer Kultur, die in vielem anders ist als unsere europäische. Dies merkt man beim Lesen immer wieder. Aber man stellt auch etwas anderes fest. Vieles ist uns ganz nah. Wir erkennen uns wieder in den Gedanken dieser Frau, die vor über 1000 Jahren in einer ganz anderen Ecke der Welt gelebt hat. Lesen Sie die Texte «Was mein Herz anrührt» und «Vergangenes, das mich wehmütig stimmt» und sie werden das faszinierende Spannungsfeld zwischen Ferne und Nähe selbst erleben.

Die deutsche Ausgabe aus dem Manesse-Verlag ist wunderbar gestaltet. Der Buchdeckel ist gepolstert. Man möchte sein Haupt auf das Buch legen, wäre der Stoff des Einbandes nicht so hochwertig. Durch die Anordnung der Texte und der Erklärungen sieht jede Seite anders aus. Das macht das Buch besonders schön. Kommt dazu, dass das edle Papier leicht durchscheint. Man erkennt schemenhaft die Struktur der nächsten Seite. Schade, dass dieser Effekt bei der technischen Aufbereitung der Buchseite für diesen Bericht verloren gegangen ist.

«Wir erkennen uns wieder in den Gedanken dieser Frau, die vor über 1000 Jahren in einer ganz anderen Ecke der Welt gelebt hat.»

Literaturangabe:
Gianna Molinari, Hier ist noch alles möglich, Berlin 2018:Aufbau-Verlag

 

Text: Thomas Fähndrich
Bilder: Thomas Fähndrich, id-k